Gábor Kecskeméti
PREDIGT, RHETORIK, LITERATURGESCHICHTE
Das ideengeschichtliche Umfeld der altungarischen Grabrede
(Zusammenfassung)

1.1. In Deutschland wurde die Forschung erstmals zu Beginn der 60er Jahre auf die literarische und kulturgeschichtliche Bedeutung der literarischen Gattung Grabrede aufmerksam. Zu diesem Zeitpunkt befassten sich hauptsächlich die Geisteswissenschaften mit ihrer Aufarbeitung und Analyse. Aufgrund der Menge des verfügbaren Materials wurde dieser Quellenkomplex Gegenstand historischer Untersuchungen auf den Gebieten der Medizin, Demographie, Statistik und Soziologie. Man beschäftigte sich mit den in den Grabreden nachweisbaren historischen Beziehungen zwischen Lebensstil, Mentalität, Erziehung, Rezeptionsgeschichte, Musik, Religionssoziologie und Theologie. Die deutsche Fachliteratur, für die eine Vielfalt von Interessensgebieten kennzeichnend ist, erzielte bisher gerade in bezug auf den speziell literarischen Ansatz die bescheidensten Ergebnisse.

Angeregt durch eine – von der deutschen Forschung unabhängige – Idee Katalin Péters, begann 1981 am Lehrstuhl für altungarische Literaturgeschichte der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE) die institutionelle Erforschung der ungarischen Grabreden.

Die vorliegende Studie kann keine auch noch so umrisshafte Darstellung dieser im Rahmen jenes Forschungsprogramms nun auch in Ungarn untersuchten Problembereiche bieten. Wahrscheinlich hätten die der deutschen Quellenlage entsprechenden Ziele von der gemeinsamen Forschung kurz vor ihrer Erreichung geändert werden müssen. Da die Anzahl der deutschen Quellen jene der ungarischen um drei Größenordnungen übersteigt, kann man ausschließen, dass die dank der Datenmenge zur statistischen Systematik ausbaubaren Forschungsmethoden z. B. in den Fragen der Demographie- und Soziologiegeschichte auch in Ungarn eine ähnlich fundierte Synthese ergeben könnten.

1.2. Aus der Sicht der Literaturgeschichte erachte ich es jedoch für wichtiger, dass das grundlegende System der literarischen Existenzform dieses Quellenkomplexes endlich beschrieben werden kann – eine auch in der europäischen Forschung großteils noch unverrichtete Aufgabe. Bei der Zusammenfassung des gegenwärtigen Forschungsbereichs ließ ich deshalb einen bedeutenden Teil der historischen, sozialgeschichtlichen und literatursoziologischen Aspekte außer acht, meine diesbezüglichen gesammelten Daten und Schlussfolgerungen blieben in dieser Arbeit unberücksichtigt. Meine Forschungen zielten eher auf eine gründliche Aufarbeitung und auf die Vertiefung des Verständnisses der Grabrede als funktionierendes rhetorisches System. Aus dieser Sicht betrachtet ist es im Endergebnis bis zu einem gewissen Grad irrelevant, dass es sich bei den untersuchten Reden um Grabreden handelt: sie sind eher als Paradigmensammlung aufzufassen, welche die mit den sonstigen sakralen und säkularen Reden der altungarischen Literatur gemeinsamen Verfahren, die verschiedenen Funktionsweisen eines einheitlichen rhetorisch-homiletischen Systems veranschaulicht. Ab einem gewissen Punkt gewinnt aber die Tatsache, dass es sich hierbei um Grabreden handelt, große Bedeutung. Gerade bei der Analyse des rhetorisch-homiletischen Systems der Literatur des 17. Jahrhunderts wird deutlich, dass diese Sprechsituation mit bedeutenden erkenntnistheoretisch-kommunikationstheoretischen Konsequenzen einhergeht und Verschiedenheiten mit sich bringt, welche die Diskursordnung dieser Reden von jener anderer eindeutig abgrenzen.

1.3. In den letzten Jahren kann man sich bereits auf einen fachlichen Konsens berufen, demzufolge die Werke der alten Literatur in einem adäquaten theoretischen Rahmen zu betrachten sind, d. h. eine hinter der Literaturgeschichte stehende Geschichte der literarischen Grundsätze, des literarischen Denkens ist zu schreiben. Diese literarischen Grundsätze sind gleichermaßen in Grammatik, Rhetorik, Poetik und Logik nachweisbar, deshalb wurde die Untersuchung des 16.–18. Jahrhunderts ihrer Geschichte in Angriff genommen und erbrachte wichtige Ergebnisse. Was die einzelnen Literaturen anbelangt, kann man in der europäischen Forschung von verschiedenen Zeitpunkten an, im allgemeinen ab den 60er Jahren des 20. Jhs. vom Auftauchen dieser Tendenz sprechen, ihr Aufschwung zur systematisch betriebenen Forschungsrichtung ist jedoch jüngeren Datums, und die ersten Resultate dieser vereinten Bemühungen wurden bereits in den achtziger und neunziger Jahren erzielt.

Forschungen auf dem Gebiet der Geschichte der Rhetorik sind in Ungarn seit der Anregung und richtungweisenden Monographie von Imre Bán (1971) im Gange. Seither haben István Bartók und Andor Tarnai den Löwenanteil bei der Aufarbeitung der ungarischen rhetoriktheoretischen Literatur geleistet. Nach Abhandlungen über die rhetorischen und homiletischen Werke einzelner Autoren erarbeitete Bartók einen systematisierenden Überblick über die Gesamtheit der Literatur der Rhetorik und Logik des 17. Jahrhunderts. Von Tarnai wurde ein Aufriss der rhetorischen Vorschriften einiger Gattungen und Schaffensmethoden verfasst (consultatio, parodia, die lateinische Gelegenheitsdichtung).

1.4. In den europäischen rhetoriktheoretischen Forschungen der jüngsten Zeit gibt es Anzeichen dafür, dass die Untersuchung der Lehrbücher der Rhetorik, Logik, Poetik und Grammatik, die Erfassung ihrer Thesen und ihr Vergleich mit der literarischen Praxis allein für die Klärung der Kommunikationssituation der untersuchten Epoche nicht ausreichend sein wird.

1.4.1. Auch die Gattungen des praeceptum haben ihre eigene autonome Geschichte, die sich nicht notwendigerweise im Zusammenhang mit den alltäglichen praktischen Anforderungen entwickelte. Die einzelnen Lehren werden nicht unbedingt deshalb wiederholt, weil auch die der Reflexion unterzogene Wahrheit doch wieder die gleiche rhetorische Praxis verwirklicht, sondern eher in der Absicht, das Festhalten an der theoretischen Tradition zu demonstrieren.

1.4.2. Die Lehren der Handbücher sind weniger praxisbezogen. In den rhetorischen und homiletischen Werken werden zahlreiche, vom Standpunkt der praktischen Kommunikation äußerst wichtige Fragen nicht berührt. Z. B. äußern sie sich nicht über das Verhältnis zwischen säkularer Rede und Predigt, über die gattungstheoretische Einordnung der geistlichen Rede. Zwischen den zwei Polen der homiletischen bzw. rhetorischen Vorschriften scheint sich ein Niemandsland zu erstrecken, in dem weder weltliche noch geistliche Rhetorik einen Stützpunkt bieten, wo selbst die Lehren eines noch so praktischen rhetorischen Handbuchs die Orientierung nicht erleichtern, und in dem sich die Redner der Repräsentation des Barockzeitalters dennoch ständig bewegen müssen. Wir müssen bedenken, dass die praktische Bewältigung der von der Theorie niemals beschriebenen rhetorischen Erscheinungen vor allem durch eine kontinuierliche literarische Tradition gewährleistet wurde.

1.4.3. Es lassen sich zahlreiche in den Werken selbst verstreute Bemerkungen finden, durch deren minutiöse Erfassung von den schaffenden Autoren manches in Erfahrung gebracht werden kann, was die theoretischen Handbücher niemals erwähnen. Denn die Autoren beobachteten und registrierten die für ihre Tätigkeit maßgeblichen Faktoren mit regem Interesse.

Ihre Bemerkungen stehen aber mit zahlreichen anderen gedanklichen Bereichen in Zusammenhang, nicht nur mit solchen, die dem Gebiet der alten literaturtheoretischen Gattungen zugeordnet werden können. Die Verfasser legen ihre die Kommunikation betreffenden Ansichten als Teil des ganzen Spektrums ihrer Kenntnisse und Weltanschauung dar. Ihre auf die Art und Weise ihrer eigenen Tätigkeit bezogenen Wahrnehmungen können nicht analysiert werden, wenn wir innerhalb des Rahmens der von der Literaturtheorie ausgehenden Wissenschaften bleiben, wir bedürfen einer komplexen kultur- und ideengeschichtlichen Sichtweise, welche die Aufarbeitung der Aussagen über die Erkennbarkeit der Welt, die Mitteilbarkeit der erkannten Tatsachen, über Mitteilung und Erkenntnis, die adäquate Entsprechung von Mitteilung und Wirklichkeit und über den Sinn und Zweck der Mitteilung mit einbezieht. All das verlangt die Berücksichtigung jener Hypothesen und Aussagen von Erkenntnistheorie, Philosophie und Theologie, welche die Mitteilung in irgendeiner Form beeinflussen. Die Geschichte der Rhetorik muss in der Ideengeschichte als Ganzes ihren Platz finden.

Dieser Standpunkt wird in meiner Arbeit zur Anwendung gebracht. Meine Studie ist im wesentlichen ein Versuch, die rhetorikgeschichtlichen Bezüge der ungarischen Grabreden des 17. Jahrhunderts in einen umfassenderen ideengeschichtlichen Rahmen zu stellen.

1.5. Meine Thesen stützen sich auf das gesamte Quellenmaterial der 1711 erschienenen Ausgabe der gedruckten ungarischen Grabreden, lateinische Parallelen werden im allgemeinen dann berücksichtigt, wenn sie in direktem Zusammenhang mit den analysierten Texten stehen (lateinische Reden beim selben Begräbnis, lateinische Werke desselben Autors). Aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Verzicht auf eine dieser Einschränkungen des Quellenmaterials (die Einbeziehung der fremdsprachigen oder nach 1711 erschienenen gedruckten Grabreden bzw. die systematische Aufarbeitung des handschriftlichen Materials) nur die Zahl der für die Argumentation relevanten Textbeispiele ohne Notwendigkeit anschwellen lassen und brächte keine paradigmatischen Neuheiten. Gleichzeitig würde dies eine solche quantitative Zunahme des untersuchten Materials bedeuten, dass ich seine methodische Erforschung nur in Form einer Arbeitsgemeinschaft für möglich halte, eventuell im Rahmen eines neuerlichen institutionellen Forschungsvorhabens. Auch so ist das Quellenmaterial äußerst umfangreich: hinsichtlich der Druckwerke machte es ein Zwanzigstel des Materials der RMK I. (Régi magyar könyvtár – „alte ungarische Bibliothek“) aus, hinsichtlich des Textmaterials ist der Anteil noch größer.

Um der Arbeit eine Grundlage zu geben, arbeitete ich die bis 1711 in Druck erschienenen ungarischen Grabreden bibliographisch auf. Ich verwendete die Bibliographien von Sztripszky und Dézsi, den Teil Magyar Könyvesház („Ungarische Bücherei“) der Zeitschrift Magyar Könyvszemle („Ungarische Bücherrundschau“), das sog. „durchgeschossene“ (durch handschriftliche Eintragungen auf eingefügten Blättern aktualisierte) Exemplar und den Indexband des RMK I. der Széchényi Nationalbibliothek (Budapest), deren Zettelkataloge und konnte ich auch in die Handschrift des in Vorbereitung begriffenen neuen RMNy-Bandes (Régi magyarországi nyomtatványok – „alte ungarländische Druckwerke“) Einsicht nehmen. Das gesammelte Material ist im Anhang aufgelistet, trotz aller Umsicht könnte, wird sogar aller Wahrscheinlichkeit nach dieses Verzeichnis noch unvollständig sein.

Aus den Angaben der Aufstellung geht hervor, dass von den 100 in die Untersuchung einbezogenen Erstausgaben gerade 67, von den 354 enthaltenen Grabreden 319 der kalvinistischen Kirche angehörende Verstorbene betreffen. Im untersuchten Material befinden sich nur zwei lutherische Druckwerke, darin enthalten insgesamt vier Reden, die Unitarier sind durch eine einzige Rede in einem einzigen Druckwerk vertreten. Der Rest ist Katholiken betreffendes Material: in 30 Druckwerken 30 Reden. (Wenn wir auch die im 17. Jahrhundert in zweiter Auflage erschienenen Bände von Grabreden und die in ihnen enthaltenen Predigten berücksichtigen, neigen sich die Zahlenverhältnisse noch stärker zugunsten der Kalvinistischen: von 104 Druckerzeugnissen sind 71, von 504 Reden 469 ihnen zuzuordnen.) Diese Erscheinung findet hier nur Erwähnung: ihre Erklärung und die Darlegung der je nach Zeitabschnitt wechselnden Dynamik der quantitativen Verhältnisse gehören zu jenen Aufgaben, die der Anwendung der historischen, sozialgeschichtlichen und literatursoziologischen Perspektive bedürfen und die in dieser Arbeit nicht behandelt werden. Eine notwendige Folge dieser quantitativen Verhältnisse besteht aber darin, dass fast durchwegs von der protestantischen Diskursordnung des 17. Jahrhunderts die Rede sein wird.

Der interkonfessionelle Charakter der barocken Rhetorik ist allgemein bekannt, dies gilt aber nur für die Theorie der Rhetorik ohne größere Einschränkungen. Deswegen stütze ich mich wenn notwendig auch auf die Aussagen katholischer theoretischer Werke. In der rhetorischen Praxis hingegen, und besonders gerade in den mit dem Begräbniszeremoniell in Zusammenhang stehenden Reden gibt es durch die konfessionelle Zugehörigkeit bedingte einschneidende Unterschiede in der Anwendung. Da die Menge des katholischen Textmaterials zur Untermauerung von systemrelevanten Schlussfolgerungen zu gering ist, wird es in dieser Arbeit im allgemeinen nur zur Kontrolle, als Parallel- oder Gegenbeispiel oder zwecks eines Ausblicks eingesetzt, ihre ähnlich detaillierte, selbständige Behandlung könnte durch eine gemeinsame Betrachtung mit in der Kirche gehalten, vor allem den de sanctis-Predigten ermöglicht werden, wodurch sich eine für eine Untersuchung bereits ausreichende Datenmenge ergäbe.

2. Gerade der Ausgangspunkt der Arbeit ist ein auf die Religionszugehörigkeit bezogener, augenfälliger Unterschied: die in der überwiegenden Mehrheit der den Großteil des untersuchten Materials ausmachenden reformierten Predigten vorhandene, den katholischen Predigten aber sozusagen unbekannte Schaffensmethode, Diskurskonvention, deren Eigenheiten sowohl bezüglich der inventio, als auch der dispositio und elocutio wahrnehmbar sind. Die Frage ist praktisch unbeantwortet, welche die Kennzeichen des „großen, grauen Durchschnitts“ der protestantischen Prosaliteratur, der trocken theologisierenden Fachtexte des 17. Jahrhunderts sind, die als Niederschlag der Literaturtheorie des Barockzeitalters beschrieben werden können – wenn es solche überhaupt gibt.

Es wäre verlockend, diese Werke als eine mit dem (hauptsächlich katholischen) Barockzeitalter zwar gleichzeitige, aber sich an einem noch mehr zukunftsweisenden, modernen Kommunikationssystem orientierende Literatur aufzuarbeiten. Es ist ja wohlbekannt, dass im Europa des 16., 17. Jahrhunderts sowohl die rationale Vermittlung wissenschaftlicher Wahrheiten als auch die Ausarbeitung der diese Vermittlung steuernden Kommunikationsregeln nachdrücklich initiiert wurde (Ramus, Bacon, Descartes).

Angesichts ihrer Absicht, auf den Verstand zu wirken, ihrer nur auf bewiesenen Aussagen aufbauenden inventio, ihrer gegliederten, klaren, mit den Aussagen kohärenten dispositio, ihres trockenen, emotionslosen, wissenschaftlichen Stils scheint es auf der Hand zu liegen, in der protestantischen Predigtliteratur eine Verkörperung der Grundprinzipien dieses neuen Mitteilungssystems zu erblicken. Ramismus, Baconismus und Kartesianismus übten eine starke Wirkung auf die ungarische Kultur aus. So ist es nicht unmöglich, dass die Praxis der ungarischen protestantischen Prediger unter dem Einfluss dieser Strömungen didaktische Formen angenommen hat. Im 2. Kapitel wird dieser Gedanke überprüft.

Die hauptsächlich durch das Wirken von Bacon und Descartes geprägten, für die Mitteilung relevanten modernen Grundsätze wurden von W. S. Howell Bemühungen um eine „neuen Rhetorik“ genannt, und zuerst in vier, später in sechs Punkten zusammengefasst. Ihre Berücksichtigung könnte die Frage beantworten, ob wir die ungarische protestantische Prosa des 17. Jahrhunderts als eine literarische Form betrachten können, die durch modernere Kommunikationsbemühungen als die persuasiven literarischen Prinzipien des Barock determiniert ist. Ihre Beantwortung ist gleichzeitig auch eine Gegenprobe: ein Maßstab dafür, inwieweit sich die Fragestellungen hinsichtlich der Untersuchung unseres Gegenstandes genau und adäquat erweisen.

Bezüglich der ersten drei Aspekte zeigte sich im Laufe der Untersuchung, dass die postulierte Abweichung im vorliegenden literarischen Material nicht nachweisbar ist. Nicht etwa deswegen, weil in der ungarischen Predigtliteratur die modernere, als wissenschaftlich betrachtete der zwei, durch drei Gegensatzpaare dokumentierten Mitteilungsformen überhaupt nicht belegbar wäre – im Gegenteil: weil die archaischere, bei der Vermittlung der wissenschaftlichen Wahrheit für anspruchsloser geltende Mitteilungsform infolge der wesentlichen Gattungsgesetze der Predigt auch in einem früheren Abschnitt ihrer Entwicklungsgeschichte nicht nachweisbar ist. Die religiöse Hermeneutik ist von den weltlichen Gattungen unabhängig; im Vergleich zu den säkularen Systemen derselben Zeit sind für sie ganz andere Sichtweisen und Lösungsmethoden kennzeichnend. Howells Punkte scheinen nur für die Untersuchung der weltlichen Mitteilung geeignet.

Die beiden letzten Aspekte beleuchten eine Strömung der protestantischen Predigtliteratur, die tatsächlich eine Parallelität mit den Zielen der „neuen Rhetorik“ aufweist. Doch hinter der Berufung auf ähnliche Prinzipien steht kein direkter Zusammenhang. In der Geschichte der ungarischen protestantischen Predigt wurde die neue Anwendungsweise und Erwartungshaltung nicht infolge des Wirkens von Bacon und Descartes heimisch, sondern hatte sich im großen und ganzen schon verfestigt, bevor deren Einfluss überhaupt zur Geltung kommen konnte. Folglich können sie zwar bei der Durchsetzung der analysierten Mitteilungsform eine Rolle gespielt haben, doch im wesentlichen hat sich ein fertiges Modell ihr zu seiner Bestätigung und Aufrechterhaltung geeignetes System angeeignet (und auf diese Weise auch assimiliert).

Folglich können die an die wissenschaftliche Argumentationsweise erinnernden Besonderheiten der ungarischen protestantischen Predigten des 17. Jahrhunderts nicht direkt mit den kommunikativen Konsequenzen der durch die Namen Ramus, Bacon, Descartes und anderer gekennzeichneten philosophischen und erkenntnistheoretischen Gedankengängen erklärt werden. Diese Feststellung hat zwei wichtige Überlegungen zur Folge.

2.1. Die treibende Kraft des behandelten Predigttyps darf man nicht in den als „diametrale Gegensätze“ auftretenden, rationalen, wissenschaftlichen Welterklärungen des Barock suchen, sondern in den die Bedürfnisse des Barockzeitalters befriedigenden Kommunikationssystemen. Wahrscheinlich muss ein rhetorisch-homiletisches System gefunden werden, das sich zwar teilweise von den wissenschaftlich-philosophischen Grundlagen der „neuen Rhetorik“ ausgehend entwickelt, aber deren Schlussfolgerungen den eigenen Absichten entsprechend umgeformt hat.

2.2. Schon vor langer Zeit wurde von Arnold Hauser darauf aufmerksam gemacht, dass bei der Zuordnung eines Textes zum Barock „jedes formale Kennzeichen sekundär“ sei, die Gemeinsamkeiten der denselben Stil repräsentierenden Werke „nicht formaler Natur sind, sondern der Weltanschauung, dem Lebensgefühl und der Philosophie des Zeitalters entspringen“. Die barocke Stilistik ist nicht identisch mit dem Barock selbst; ein barocker Text wird erst durch sein ganzes rhetorisches System, durch seine inventio, disposito und elocutio ein solcher. Durch Hausers soziologischen Ansatz wurden die stilistischen Begriffe von formalen zu eher inhaltlichen Kategorien umgedeutet.

In den letzten Jahren haben sich diese Tendenzen sosehr verstärkt, dass die das Verständnis des Barockzeitalters anstrebenden neueren Ansätze sich selbst bereits als die dritte Ära der Barockforschung, als neues Paradigma definieren: als ideengeschichtliche Forschungsrichtung, die der stilgeschichtlichen und soziologischen folgt. Sie vertreten die Ansicht, dass über stilistisch-formale, aber auch soziologische Gesichtspunkte hinausgehend bei der Charakterisierung einzelner Epochen das in den Werken zum Ausdruck kommende Denken, die Ideen, die Mentalität entscheidend sind. D. h. wir müssen den ideengeschichtlichen, weltanschaulichen, philosophie- und theologiegeschichtlichen (ja sogar kirchengeschichtlichen) Aspekten einen vorrangigen Platz einräumen. Dieser Prozess läuft parallel mit der Tendenz, die auch die Sichtweise der Geschichte der literarischen Grundsätze von einer rhetorikgeschichtlichen zu einer umfassenden kommunikationstheoretisch-historischen Perspektive auszuweiten beabsichtigt.

Folglich ohne besonders künstlerische Stilmittel in unseren Texten suchen zu müssen – allein dadurch, dass jene Faktoren bzw. philosophische und theologische Komponenten der Entwicklung der ihre Argumentationsweise steuernden Theorien dargelegt werden, welche die Mitteilungsform, die Gattung für die Hauptziele der Barockliteratur, für die Propaganda, die Überzeugung, die Überredung geeignet machte oder geeignet erscheinen ließ: dadurch wird die Zugehörigkeit dieser Texte zum Barockzeitalter nachgewiesen. Unter dem Einfluss der ungarischen und der mit der ungarischen Rezeption vertrauten ausländischen Autoren rhetorischer und homiletischer Werke machte sich die homiletische Theorie der protestantischen geistlichen literarischen Gattungen allmählich die einfache, ungekünstelte Mitteilungsform, als das auf die breiteste Akzeptanz stoßende Kommunikationsideal zu eigen.

3. Bei der Ausbildung des rationalen-didaktischen Charakters der protestantischen Predigt war die historische Entstehung der die Predigt betreffenden gattungstheoretischen und sonstigen rhetorisch-homiletischen Überlegungen der entscheidende Faktor.

3.1. In der mittelalterlichen ars praedicandi-Literatur kam man gar nicht auf die Idee, dass die Predigt zu einem der antiken genera gehören könnte. Man sah weder vom Standpunkt der Homilie, noch von dem der sermo aus betrachtet einen Nutzen in der Einführung dieser theoretischen Begriffe einer heidnischen Zeit.

Frühere Forschungen sahen zwar deutlich die Hauptrichtung der weiteren Entwicklung der Predigt, blieben aber einerseits die Aufarbeitung der Predigtpraxis des der Reformation vorangehenden Übergangszeitraumes schuldig, andererseits die Berücksichtigung der wesentlichen und bleibende Wirkung hinterlassenden Veränderungen, die im predigttheoretischen Denken zu Beginn des 16. Jahrhunderts einsetzten.

Im Italien des 14. Jahrhunderts entstehen erstmals Predigten, die mit der Tradition der mittelalterlichen Predigt brechen und die Wirkung des Wiederauflebens der klassischen Rhetorik zeigen. Nach der homilia und der scholastischen sermo beginnt in der Geschichte der europäischen Predigt ein neuer, bisher kaum der Beachtung gewürdigter Zeitabschnitt, jener der im allgemeinen oratio genannten, unter dem Einfluss der weltlichen Redekunst geschriebenen Predigten.

Die vielfältige Umgestaltung der Praxis der Predigt wurde bis zu einem gewissen Grad auch von der Predigttheorie nachvollzogen, indem sie die Gattung der Predigt dem genus demonstrativum zuordnete (Lorenzo Guglielmo Traversagni, Aurelio „Lippo“ Brandolini).

Unter dem Einfluss des sich entfaltenden Protestantismus nahm die predigttheoretische Lehre von den genera in Deutschland eine andere Richtung als in Italien. Melanchthon verwarf den kirchlichen Gebrauch des genus demonstrativum und des genus iudiciale, schuf hingegen, hauptsächlich zu diesem Zweck, das genus didascalicum.

Obwohl Melanchthon und Erasmus bisweilen an der Eignung des genus demonstrativum zweifelten, der Predigttheorie als Rahmen zu dienen, suchten sie die Lösung auf dem Boden der klassischen Rhetorik, genauso wie die italienischen Theoretiker. Diese Haltung stellt einen paradigmatischen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Homiletik dar. Der begriffliche Rahmen der klassischen Rhetorik wurden endgültig von den scholastischen artes abgelöst.

Im rhetorischen Denken der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts müssen wir bereits die unterschiedlichen Wege berücksichtigen, die Katholiken und Protestanten bei der weiteren Synthese der Versuche beschreiten, die Predigt in einen rhetorischen Rahmen einzuordnen.

3.1.1. Die zunehmende Häufigkeit des genus deliberativum ist durch die wachsende Bedeutung des Wunsches zu überzeugen erklärbar, die ihre Ursache offenbar in den sich zuspitzenden religiös-konfessionellen Polemiken hatte, die immer größere Verbreitung fanden. Allerdings wird auf protestantischer Seite dem deliberativum, obwohl ein bestimmender Faktor des lehrhaft-moralisierenden Charakters der protestantischen Predigtliteratur, höchstens der zweite Platz auf der Wichtigkeitsskala zugewiesen, es wird praktisch der vierten Redegattung nach Melanchthon untergeordnet. Die Theoretiker des katholischen Lagers zählen gegen Ende des Jahrhunderts gerade diese vierte Redegattung nicht mehr zu den bestimmenden rhetorischen Elementen der Predigt; im allgemeinen bleibt für sie als Ganzes am ehesten das deliberativum bestimmend, bei einem ihrer wichtigen Teilbereiche, den Grabreden und den Reden über die Vitae der Heiligen, muss man mit dem Überwiegen des genus demonstrativum rechnen.

3.1.2. Sowohl in katholischen, als auch in protestantischen theoretischen Werken wird, unter Berufung auf das klassische rhetorische System, gewohnheitsmäßig immer wieder ausgeführt, dass eine Rede dreierlei beabsichtigt: docere, delectare, flectere. Vollständige Unsicherheit herrscht aber darüber, ob diese drei Zielsetzungen gleichzeitig eine Hierarchie der Ziele darstellen; ob sie zu den verschiedenen Arten oder genera der Predigt gehörende Aufgaben sind, oder ob für die Predigt als Ganzes Gültigkeit haben, d. h. als eine Anforderung zu betrachten sind, die in jeder Predigt verwirklicht werden sollte. Es werden grundsätzliche Überlegungen darüber angestellt, ob die drei Zielsetzungen imstande sind, in die gleiche Richtung zu wirken und sich gegenseitig im Sinne der Erreichung des von der Predigt erhofften Effekts zu verstärken. Das katholische Lager bejaht diese Frage: die auf die Sinne wirkenden Elemente der Predigt können auf die Vernunft Einfluss ausüben und jene Gedanken auslösen, die zur Annahme des Guten, zur Willensentscheidung führen. Der Sichtweise des protestantischen Lagers zufolge werden die drei Zielsetzungen nicht als chronologische Punkte eines linearen Prozesses verwirklicht, denn das docere und delectare können grundsätzlich niemals Teile von ein und demselben Vorgang sein.

3.1.3. Auch bezüglich des Wahrheitsgehalts der in der Predigt enthaltenen Aussagen und Argumentationsweisen bestehen eindeutige Unterschiede. Die Forderung, die vollständige, theologisch und wissenschaftlich fundierte ungetrübte Wahrheit mitzuteilen, ist in der protestantischen Predigt ein viel bestimmenderer Faktor als bei den Katholiken, deren theoretische Überlegungen sich eher auf das von Zweifeln freie, intensive Erleben der Glaubenssätze, auf die Befolgung der Verhaltensmuster, die den auch ohne Beweis akzeptierten Grundprinzipien entsprechen, und auf die Beeinflussung des Willens konzentrieren, und nicht auf die Ratio, auf das Abwägen der Behauptungen und die aufgrund der Beweisführung erlangten Erkenntnis der Wahrheit.

3.2. Fast in allem der in Ungarn erschienenen oder von ungarischen Autoren zusammengestellten protestantischen Rhetorikhandbücher des 17. Jahrhunderts wird neben den im Altertum ausgearbeiteten drei Redegattungen als vierte der auf Melanchthon zurückgehende genus didacticum od. didascalicum auch angeführt.

In den protestantischen geistlichen Schriften dieses Zeitabschnitts wird das Lehren häufig erwähnt, bald als die wichtigste Aufgabe des Seelenhirten, bald als Synonym für die bei der Erfüllung dieser Aufgabe unentbehrliche sakrale Rede. Ihre Aussagen setzen den Glauben mit Wissen, die Verbreitung des Glaubens mit intellektueller Tätigkeit und die Predigt mit dem Lehren gleich.

Doch das genus didascalicum und das Lehren sind nicht identisch. Das genus didascalicum der weltlichen Rhetorik ist ein Thema, das in den Bereich der thesis gehört, das homiletische Lehren ist durch die Methode der Darlegung der absoluten Wahrheit gekennzeichnet. Der Unterscheidung zwischen thesis und hypothesis kommt in der Gattung der weltlichen Rede entscheidende Bedeutung zu, bei den geistlichen Reden ist sie nicht relevant. Die im homiletischen Sinn interpretierte Lehre von der Predigt beinhaltet thesis und hypothesis gleichermaßen.

Die Grenzlinie, welche die Kommunikationssituation von Predigt und profaner Rede trennt, verläuft nicht zwischen dem genus didascalicum und den anderen drei genera, sondern zwischen den verschiedenen Ebenen der mitgeteilten Wahrheiten. Das genus didascalicum der Rhetorik bezeichnet eine weltliche Art der Rede, welche die Verbreitung der in den Bereich der thesis gehörenden annehmbaren Wahrheit bezweckt, indem sie auf den allgemein verbreiteten Anschauungen aufbaut, entweder selbständig oder in Verbindung mit anderen Redegattungen. Die in der Homiletik unter dem Titel docere zusammengefassten Forderungen kennzeichnen einen geistlichen Redetypus, der mit als wissenschaftlich geltenden Beweisen eine absolute Wahrheit verkündet, und in dem in einzelnen Bereichen der rhetorischen Invention allen vier genera eine Rolle zukommen kann.

In der Invention der Predigtliteratur der protestantischen Orthodoxie werden die Verfahren des genus didascalicum nicht nur fallweise, hie und da, durch die übrigen genera ergänzt. In den Arbeitsmethoden der Prediger dieser Zeit lässt sich jenes Element nachweisen, welches gewährleistet, dass das genus didascalicum durch die Schaffensmethoden der übrigen genera systematisch und zwangsläufig ergänzt wird.

Die sich auf die loci stützende Arbeitsweise ist ein wichtiger Grund dafür, dass es sich bei der protestantischen Predigt nicht um den Selbstzweck einer rhetorischen Leistung, sondern um wissenschaftliche Argumentation handelt, die anhand einer gegebenen Bibelstelle Gelegenheit zur kohärenten Darstellung unabänderlicher Lehren findet. Doch in den unter Verwendung von locus-Sammlungen entstandenen Predigten nahm auch die Tendenz zu, neben der reinen, vertieften, systematischen und authentischen Lehre zusätzlich unterhaltendes oder erbauliches Material zu verwenden. Die auf den systematischen Einsatz der Exempel ausgerichtete protestantische Literatur gibt Gelegenheit, neben dem genus didascalicum auch die übrigen genera einzubeziehen, die Aufgabe des docere erfüllt sie nicht nur im engeren homiletischen Sinn, sondern übernimmt auch eine wichtige gesellschaftliche, gesellschaftspolitische Rolle.

3.3. Philosophie- und theologiegeschichtliche Forschungen lassen darauf schließen, dass Ramus (und in der Folge allmählich andere Autoritäten der sich entwickelnden neuen wissenschaftlichen Methoden) ihre Wirkung nicht selbständig und auf direkte Weise entfalteten, sondern im Verein mit nicht-orthodoxen protestantischen Strömungen. Die umfassendste und weitgehendste Verbindung ging der Puritanismus mit dem Ramismus ein.

Gegenüber der orthodoxen Rhetorik, die sich auf die dogmatischen Lehren konzentrierte und deren Darstellung, sowie die ihrer praktischen Anwendungen mit einem reichen Material an Exempeln oftmals weltlichen Ursprungs begleitete, d. h. neben dem genus didascalicum auch das deliberativum und das demonstrativum anwendete, stellte das Auftreten des Puritanismus einen Wendepunkt dar. Um die Voraussetzungen für eine effektive, volkstümliche Kommunikation zu schaffen, entwickelten die Puritaner das Ideal eines einfachen, praktischen Prosastils, des „plain style“, der als rhetorische Folgeerscheinung der Grundprinzipien von Ramus’ Diskurs, der Forderung clare et distincte charakterisiert werden kann. Auch im Ungarn des 17. Jahrhunderts wurde die Einfachheit als literaturtheoretisches Gebot vornehmlich vom Puritanismus propagiert.

In den Deklarationen ungarischer puritanischer Autoren für eine einfache Schreibweise lassen sich zahlreiche Stellen finden, die vom wissenschaftlichen Stil abweichen. Aus dieser Tatsache ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die kommunikativen Grundprinzipien der auf Ramus aufbauenden wissenschaftlichen Methode ihren in der puritanischen Gedankenwelt entstandenen Anwendungen gegenüberzustellen.

4. Nachdem deutlich geworden ist, dass nicht die zur Vermittlung wissenschaftlicher Wahrheiten bestimmte philosophische Mitteilungsform direkt in den Reden wirksam wird, sondern deren mit Rücksicht auf die Gegebenheiten der protestantischen Predigt entstandene mittelbare Variante, müssen die in diesem Kommunikationssystem gewonnenen Einsichten hinsichtlich der Erkenntnis der Wahrheit und der Mitteilbarkeit des Erkannten geklärt werden.

4.1. Die Feststellungen, die über das Ausmaß der menschlichen Fähigkeit zur Wahrheitsfindung bzw. zur Mitteilung der erkannten Wahrheit getroffen werden, sind tiefgreifend von den Ansichten über die Funktionsweise des Denkens beeinflusst. Deren zwei markanteste Richtungen unterscheiden sich im wesentlichen in der Beurteilung der Determiniertheit des Denkens. Die empiristische und die rationalistische Auffassung erschienen ungefähr gleichzeitig in Ungarn, Mitte des 17. Jahrhunderts. Beide dürften die didaktischen Eigenheiten des protestantischen Kommunikationsideals verstärkt haben.

4.1.1.–4.1.2. Ungarische Quellen des 17. Jahrhunderts befürworten eine weniger strenge Auslegung der kartesianischen Lehre von den angeborenen Ideen. Ein solches Verständnis der idea innata-Lehre gestattet, ja impliziert sogar die Anerkennung der historischen und geographischen Varianten der intellektuellen Kompetenz. Folglich konnten sich die traditionellen, eine eigenständige Geschichte aufweisenden gedanklichen Elemente über die Varianten der Kompetenz sogar mit der modernsten Erkenntnistheorie verbinden. Ihre Geschichte ist aber auch unabhängig von ihrem Verhältnis zum Kartesianismus von Bedeutung für die Geschichte der Kommunikationstheorie. Die Anschauungen über die geschichtlichen und geographischen Varianten der Kompetenz schränken den Bereich der wissenschaftlichen Relevanz des Empirismus üblicherweise ein, aber sie beinhalten auch hinsichtlich der auf rationaler Grundlage möglichen gültigen Aussagen Einschränkungen. All das übt auch auf die Anschauungen über den Erwerb und den Besitz von Wissen maßgeblichen Einfluss aus.

4.2. Dem Standpunkt zufolge, der sich im Glaubensstreit zwischen Katholiken und Reformierten über die unbedingte Richtigkeit der Lehren herauskristallisierte, könne der Mensch keine absolute Gewissheit erlangen, es existierten verschiedene Stufen von Gewissheit. Es gebe keine spezielle Methode, die Wahrheit müsse in theologischen Fragen mit den gleichen Verfahren ergründet werden, mit denen ein vernünftiger Mensch seine Alltagsangelegenheiten überdenkt. Die völlige Gewissheit sei in Detailfragen oft nicht zu erlangen. Der Mensch sei zwar mit der Fähigkeit zu der für sein Seelenheil notwendigen Erkenntnis ausgestattet, die Techniken zur Darstellung dieser Wahrheiten könnten jedoch äußerst vielfältig sein und die individuelle Denkweise und das Temperament des Predigers widerspiegeln.

4.3. In zahlreichen ungarischen protestantischen Predigten kann jene erkenntnistheoretische Qualität festgestellt werden, derzufolge die Dinge keine klaren Grenzen aufweisen, gleichzeitig mehrere, womöglich gegensätzliche Bedeutungen besitzen, unterschiedlichen wortwörtlichen und metaphorischen Sinn haben, die über das verbum gemachten Aussagen auch für die res Gültigkeit haben. Aus dieser Konstellation ergibt sich die erkenntnistheoretische Schlussfolgerung, dass die ideale Mitteilungsform durch einen gemeinsamen Akt der volkstümlichen Kommunikation und des wissenschaftlichen Diskurses, der Mitteilung und der Wahrheitsfindung verwirklicht wird.

Andere Prediger nehmen den Unterschied von res und verbum wahr. Ihre Überlegungen implizieren auch die Schlussfolgerung, dass Kommunikation und Fortschritt in der Wahrheitsfindung nie und nimmer ein identischer Vorgang sein kann.

Neben den Überlegungen über die Möglichkeit der Verbindung zwischen gedanklichen Vorgängen der Welterkenntnis und der Umformung der erkannten Wahrheiten in wirksame Kommunikation finden sich in unseren Quellen auch solche über das Ausmaß der Notwendigkeit dieses Vorgangs. Die Puritaner machen in dieser Hinsicht Einschränkungen: wie sie betonen, besteht das oberste Ziel der Kommunikation in der Beschränkung der in der Kommunikation eingesetzten intellektuellen Kompetenz. Vor allem ihr Interesse an Ethik und das Bestreben, moralische Fragen in den Mittelpunkt zu stellen, ist in diesem Sinne wirksam.

5.1. Die eigentümliche Kommunikationssituation der Grabrede machte die Beziehung zwischen Gewusstem und Gesagtem durch weitere praktische Überlegungen noch komplexer.

5.2. Die Grabpredigt ist eine das Lehren im homiletischen Sinn realisierende Rede, welche in ihren die hypothesis abhandelnden Teilen, d. h. auch in ihrer Anwendung absolute göttliche Wahrheiten zum Ausdruck bringen kann. Deswegen näherten sich die Grabpredigten häufig dem Disput, der theologischen Abhandlung an.

5.2.1. Ausgesprochen häufig reflektieren die in protestantischen Predigten zu findenden belehrend-erklärend-argumentierenden Teile Fragen des katholisch–protestantischen Glaubensstreits.

5.2.2. Auch die argumentativen Systeme der die reformierte Kirche in Ungarn spaltetenden Strömungen fanden in den Grabpredigten ein Ausdrucksmittel. Die Konfrontation zwischen Orthodoxen und Puritanern zeigte sich besonders in Verbindung mit den persönlich in den Streit involvierten Toten und Predigern. Eine gründliche inhaltliche Analyse der Grabpredigten könnte Daten zu zahlreichen weiteren theologischen Positionen und zur gründlicheren Kenntnis der Streitigkeiten zwischen ihnen liefern.

In den Predigten wurde den Polemiken gegen die Lehren anderer protestantischer Glaubensgemeinschaften nicht soviel Raum gewidmet, wie der Erörterung der eigenen Standpunkte, welche die Reformierten entzweiten.

5.2.3. In der uns bekannten gedruckten Form der Grabpredigt erhielt das Lehren im homiletischen Sinn eine bedeutendere Rolle, wie ihrer mündlichen Variante. In vieler Hinsicht nahm die schriftlich ausgearbeitet Version der protestantischen Predigt die Form eines Kommentars zur Heiligen Schrift an, häufig wurde sie auch als ein solcher herausgegeben. Zweifellos wurde in zahlreichen Fällen die Umarbeitung der Grabreden im Sinne des Lehrens auch durchgeführt.

5.3. Die Leichenrede ist gemäß den Anforderungen der Repräsentation gestaltet, will von der Wahrheit unter Einstreuung von Thesen überzeugen und erfüllt seine vom genus demonstrativum geforderte Aufgabe in Verbindung mit dem genus didascalicum.

5.4. Ende des 16., anfangs des 17. Jahrhunderts nahmen der hohe, später der mittlere Adel, vom Ende des 17. Jahrhunderts an bereits städtische Bürgerfamilien bei öffentlichen Anlässen neben weltlichen Rednern oder an ihrer Statt den Prediger in Anspruch. Indem der Prediger den Platz des Orators einnahm, wurde im Grenzgebiet zwischen den zwei Gattungen eine eigentümliche rhetorische Situation geschaffen. Die Zeitgenossen waren sich über die unterschiedlichen Grundsätze der zwei Gattungen und die sich aus ihrer Vermischung ergebenden Probleme im klaren. Sie wussten, dass es bei der Grabrede Unklarheiten gab hinsichtlich der Darlegung des Dogmensystems ihrer Glaubensgemeinschaft.

Zugleich wurden die im Lehren im homiletischen Sinn geübten Prediger auch im Laufe ihrer täglichen Arbeit mit Problemen konfrontiert, die sie bis zu einem gewissen Grad auf die Behandlung der heiklen Kommunikationssituation der Grabpredigt vorbereitet haben könnten. Die Beachtung der adäquaten Entsprechung von Kommunikationssituation und mitgeteiltem Inhalt und der literatursoziologischen Unterschiede wurde von den rhetorischen Grundprinzipien der Bibelauslegung in weiten Kreisen bekannt gemacht.

Während der Niederschrift einer Grabrede vor das heikle Problem gestellt, die ewig gültige theologische und die von der Situation verlangte, gelegenheitsbedingte, relative Wahrheit gleichzeitig zu vermitteln, boten sich dem Redner bei dem Versuch, sich aus den Widersprüchen zu befreien, die den Rahmen der Predigt zu sprengen drohten, verschiedene Entscheidungsmöglichkeiten.

5.4.1. Er konnte die zweifache Aufgabe des Lehrens im homiletischen und der Laudatio im rhetorischen Sinn vermeiden (evitatio).

Er konnte auch eine den Erfordernissen der Repräsentation entsprechende Laudatio verfassen, indem er sie aber scharf von der Predigt abgrenzte und seine Zuhörer nachdrücklich auf die Unterscheidung aufmerksam machte (distinctio).

In anderen Fällen wird das Lehren und die Laudatio nicht getrennt, der Prediger integriert auch die gemäß den Erfordernissen der Repräsentation verfassten, dem Andenken gewidmeten Teile in die einheitliche Struktur der Predigt, er ordnet ihnen einen Platz innerhalb der Applikation zu. Allerdings misst er der Laudatio nicht die gleiche Bedeutung zu, wie dem Lehren im homiletischen Sinn. Die Rede als Ganzes wird von den Eigenheiten der Gattung der Predigt bestimmt, die Zugeständnisse an die schöpferischen Methoden der weltlichen Rede sind relativ gering und unbedeutend. Zuweilen fällt die Laudatio etwas detaillierter, umfangreicher aus, sie wird aber von der Predigt als Ganzes sozusagen abgestoßen. Meistens unterläuft dem Prediger irgendeine Ungeschicklichkeit, die verhindert, daß die beiden Teile zur organischen Einheit verschmelzen. Rhetorische Fehler, meist durch mangelnde Praxis bedingt, sind größtenteils in jenen Predigten zu beobachten, bei denen die dritte Lösungsmöglichkeit gewählt wurde (inconvenientia).

5.4.2. Wenn ein Prediger eine größere Einheit der Laudatio und der Predigt erreichen und während der Darlegung der absoluten Wahrheit die mehr oder weniger allgemeine relative Wahrheit über den Toten mitteilen wollte, entlehnte er häufig diesen Teil der Rede. Als Erklärung für diese Vorgangsweise kann eine universal zu nennende Arbeitsmethode dienen, die beim Verfassen von Predigten meistens gewählt wurde. Übung in ihrer Anwendung erwarb sich die geistliche Intelligenz im Laufe der Aneignung der für das Amt des Seelenhirten notwendigen praktischen Kenntnisse.

Der künftige Seelsorger lernte das Predigen in erster Linie nicht aus theoretischen, homiletischen Werken, sondern durch Beobachtung der Praxis des Predigens. Dennoch war zur Erfüllung ihrer Aufgabe wenig Eigenständigkeit notwendig, ihre Lehrer halfen ihnen oft, indem sie fertige Predigten für sie schrieben. Deswegen blieben sie im selbständigen Verfassen von Predigten ungeübt.

Dieser Methodik beim Predigtschreiben, an die sie sich in ihren Schuljahren gewöhnten, blieben sie auch in ihrem späteren Wirken treu: sie liehen sich die Predigten ihrer im Rufe talentierter Prediger stehenden Pastorenkollegen zum Kopieren oder werteten veröffentlichte Sammlungen von Predigten aus. Im wesentlichen bestand der Unterschied zwischen den unterschiedlich gebildeten und qualifizierten Seelsorgern – Mitgliedern von Akademien und Autodidakten – lediglich in der Auswahl der als Quelle dienenden Predigten. Ein solcher Gebrauch der Predigten anderer wurde von der theoretischen Literatur über die geistliche Rede nicht verurteilt, ja sogar häufig empfohlen.

Auch aus einer katholischen Predigt konnte eine Grabrede erarbeitet werden. Mehr noch, das Werk, das den Prediger durch die enge Anlehnung an den Wortlaut des Textes zu einer fertigen Predigt verhalf, brauchte nicht unbedingt selbst eine zu sein: als geeignete Quelle konnte jedwedes als geistlicher Text geschriebenes Werk dienen (scripta didactica, polemica, catechetica, casuistica usw.).

Die Orientierung an Werken anderer und deren Verwendung vollzog sich nicht gemäß dem Verfahren der imitatio sondern der variatio. Im rhetorischen System des 17. Jahrhunderts ist die variatio vor allem als in der Schule gebräuchliche Übungsmethode bekannt. Überdies betrachteten und behandelten die sich mit den Fragen des Predigens befassenden methodischen Nachschlagewerke das Verfahren der variatio im wesentlichen als grundlegende kommunikative Gegebenheit, so dass sie in diesem Zusammenhang auch als ein die Tätigkeit des Kompilierens beschreibender Terminus aufgefasst werden kann.

Die Aufzählung der im Korpus entdeckten textuellen kompilatorischen Beziehungen ist im Abschnitt 5.4.2. der Arbeit zu finden.

5.4.3. In den homiletischen Werken werden bei der Beschreibung der auf die Applikation bezogenen Kenntnisse mehrere Möglichkeiten angeführt, die auch in den Empfehlungen der Rhetoriken für das genus demonstrativum genannt werden, daher schafft ihre Befolgung die Möglichkeit, die zwei Gattungen miteinander zu verbinden.

Eine häufige Vorgangsweise der Grabpredigten besteht darin, sich auf biblische Parallelen zu berufen, oder sogar mancher Person im metaphorischen, symbolischen Sinn diese oder jene Rolle zuzuweisen. Neben der biblischen Mythologisierung ist auch das auf der antiken Mythologie oder auf Analogien der Geschichte des Altertums basierende historische Rollenspiel keine Seltenheit. In diesen Fällen kann man oft nicht entscheiden, ob man es mit dem Erfindungsgeist des Auftraggebers der Laudatio oder der ausführenden Person zu tun hat.

Durch die Darstellung des Toten als ein den Glauben kommentierendes Vorbild wird eine rhetorische Situation geschaffen, die auch den in Übereinstimmung mit den homiletischen Regeln verfassten Teil der Predigt als Lehre des Verstorbenen selbst erscheinen lässt. Demnach kommt der homiletischen Auffassung zufolge die Laudatio dem Lehren zu Hilfe, gemäß der rhetorischen Sichtweise wird das Lehren durch die Laudatio vertieft. Das Verfassen einer Grabrede konnte man mit zwei verschiedenen Methoden von zwei verschieden Diskursformen in Angriff nehmen, das Ergebnis ist identisch: das Lehren und die Laudatio kommen ins Gleichgewicht. Diese Vorgangsweise der Laudatio und die Traditionen der Hagiographie stehen in engem Zusammenhang.

5.5. Nicht bei jeder Grabrede konnte von einer Laudatio die Rede sein, mitunter mussten sich auch gewisse Elemente der Vituperatio zeigen. Die Augen vor offensichtlichen Vergehen zu verschließen wäre zwar der Familie des Dahingeschiedenen entgegengekommen, hätte aber die übrigen, ein den Anforderungen entsprechendes Leben führenden Mitglieder der Gemeinde empört, ihre Moral gelockert und die Glaubwürdigkeit des Predigers untergraben.

Im Abschnitt 5.5. wird die detaillierte Analyse eines Falles durchgeführt, von dem aufgrund eines authentischen Dokuments, eines gedruckten Textes der Leichenrede behauptet werden kann, dass bei offenem Grab tatsächlich Kritik an dem Verstorbenen ausgesprochen wurde. Besonderheit wird dem Fall durch den Umstand verliehen, dass auf dem Podest des Predigers der Widersacher des Toten stand. Das Außergewöhnliche des Quellenmaterials dieser Situation besteht darin, dass die Kritik der früheren Meinung des Verstorbenen gegenübergestellt, bzw. gleichfalls aufgrund der früheren Schriften des Toten die Entstehung, Ausbildung der gegen ihn gerichteten Argumente verfolgt werden kann.

(Übersetzung aus dem Ungarischen: Heinrich Eisterer)